Frömmigkeit auf, die andere wird von ihrem Mann verprügelt und flieht mit ihrem Kind immer wieder in das ohnehin zu enge Haus.
"In den Nachrichten gab es haufenweise Berichte über Familien, die unter dem Druck der Rezession zerbrachen, von Müttern, die tot im ungenutzten Kinderzimmer lagen, mit leeren Tablettenpackungen neben sich, oder Vätern, die sich nach London absetzten", so beschreibt Denise Mina die Situation. Auf diese Verhältnisse muss sich einlassen, wer ihrem Kriminalroman "Die tote Stunde" auf mehr als vierhundert Seiten folgen will, in keine glückliche, aber in eine bitter realistische Welt.
Paddy ist die Einzige in der Familie, die Geld nach Hause bringt. Sie schiebt mit ihrem Fahrer Billy als Reporterin Nachtschichten für die "Scottish Daily News", dem im Auto laufenden Polizeifunk immer hinterher, an Orte trostloser Geschehnisse, um vielleicht ein paar Zeilen für die nächste Ausgabe daraus zu schinden. Ihr Job führt sie in einer eiskalten Februarnacht zu einer Villa etwas außerhalb der Stadt, durch deren kurz geöffnete Tür sie eine schwer verwundete Frau erkennt, bevor ihr ein elegant gekleideter Mann vor der Tür eine Fünfzig-Pfund-Note in die Hand drückt, sehr viel Geld für Paddy, mit dem scharfen Hinweis, er wolle nichts davon in der Zeitung lesen.
Am folgenden Tag erfährt sie, dass die Frau im Haus brutal ermordet wurde, etwas später, dass der Geldschein blutverschmiert ist. So beginnt eine nur wenige Tage dauernde Hetzjagd auf Leben und Tod, hinter der eine komplizierte Verstrickung von Beziehungen steht, in die Paddy hineingezogen wird. Und bei der die Korruption in den Reihen der Polizei Glasgows, von den untersten Chargen bis in die hohen Ränge, zusätzliche Gefahr bedeutet. Aber es gibt auch menschliche Regungen im beinah undurchdringlichen Filz.
Paddy Meehan ist keine aalglatt gelackte Heldin, sie ist das Gegenteil: eine junge Frau von einundzwanzig Jahren, mit tiefer Sorge um ihre Familie, eigenen Zukunftswünschen und vielen Macken. Sie hadert mit sich selbst, ihrem Aussehen, ihrem Übergewicht und ihren Fressanfällen. Doch in ihr ist, vielleicht genau deshalb, eine Unerschrockenheit, die weniger aus Mut resultiert als aus nacktem Überlebenswillen, gepaart mit einem eher vagen Gefühl für Gerechtigkeit, das aber auch ihr selbst nützen soll.
Ihr Ehrgeiz, eine unbestechliche Journalistin zu sein, treibt sie - ohnehin als Frau das schwächste Glied in einer Kette von machistischen Machenschaften, in der Redaktion der "Daily News" wie bei der Polizei - in die Position einer feministischen Akteurin wider Willen. Sie leistet sich gravierende Fehler, geht aus Sehnsucht nach Sex mit einem verheirateten Streifenpolizisten ins Bett. Und sie wird zunehmend bissig.
Denise Mina stellt ihrer Protagonistin Kate Burnett gegenüber, gleichsam die andere Seite der Medaille. Kate ist eine Gleichaltrige, aufgewachsen auf der Sonnenseite des Lebens, die mit ihrer verantwortungslosen Selbstzerstörung durch hochfahrende Dummheit und Kokain eine Gegenwelt verkörpert. Beide, Paddy und Kate, werden am Ende getötet haben; Kate zuerst, weil sie in ihrem selbstverschuldeten Irrsinn handelt, Paddy, um ein Menschenleben zu retten. Um den Mord in der Villa herum entfaltet Denise Mina eine vielfädige Geschichte, die zwischen der Zeitung im Niedergang und der bereits im Sumpf steckenden Polizei hin und her pendelt, zwischen prekärer Geborgenheit, nicht nur in Paddys Familie, und brachialer Gewalttätigkeit derer, denen es um die Vertuschung ihrer Tat geht.
"The Dead Hour" kam schon 2006 in Großbritannien heraus und ist einer von drei Romanen der im englischsprachigen Raum viel gelobten schottischen Autorin, in deren Zentrum die junge Journalistin Paddy Meehan steht. Die zwei anderen sind 2004 und 2007 erschienen, beide liegen in deutscher Übersetzung vor als "Der Hintermann" und "Der letzte Wille". Im ersten Roman ist Paddy grade achtzehn Jahre alt, im zweiten Ende zwanzig, und sie hat einen kleinen Sohn. Jetzt wird also mit "Die tote Stunde" auf Deutsch das fehlende Mittelstück nachgeliefert, das sich aber auch als Solitär lesen lässt.
Die Übersetzung von Heike Schlatterer fängt den mitunter rüden Ton ein, der die virilen Gepflogenheiten in der "Daily News" wie bei der Polizei anklingen lässt, auch die hilflose Sprachlosigkeit, die über allem Geschehen lastet. Diese Geschichte ist kein Kriminalroman, der mit Raffinement brilliert. Aber da ist eben diese Paddy Meehan, eine unvollkommene Heldin in all ihrer sturen Tapferkeit. Von ihr wieder zu lesen wäre schön. Ob Denise Mina Paddys Leben weiter folgt, ist noch nicht bekannt.
ROSE-MARIA GROPP
Denise Mina: "Die tote Stunde". Kriminalroman.
Aus dem Englischen von
Heike Schlatterer.
Heyne Verlag, München 2016. 448 S., br., 9,99 [Euro].
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